Hat der stationäre Einzelhandel noch vor wenigen Jahren die Digitalisierung als dunkle Bedrohung bewertet, werden Big Data und Data Analytics zunehmend als Chance für das Filialgeschäft begriffen. Der Handel steht jetzt vor der Herausforderung, die richtigen Trends in der richtigen Dosis zu identifizieren, um diese Chance auch gewinnbringend zu nutzen – und nicht durch eine Überdosis an Big Data, die entlang der Customer Journey entstehen, den Blick und das Gespür für das eigene Geschäft zu verlieren.
Mobiler Datenzugriff am Point of Sale
Kunden haben beispielsweise die Möglichkeit, ausführliche Informationen zum Produkt direkt am Point of Sale (PoS) per Smartphone abzurufen. Der Zugriff erfolgt über QR-Codes auf der Verpackung sowie Beacons oder Near Field Communication Tags (NFC) am Regal. Im Hintergrund werden Daten aus verschiedenen Systemen verknüpft, um Kunden Informationen wie beispielsweise die Systemkompatibilität von elektronischen Geräten oder zu Lebensmitteln passende Kochrezepte anzuzeigen.
Verkäufer können im Kundengespräch per Tablet Detailinformationen zum Produkt abrufen, Kunden bei Bedarf direkt ein Erklär- oder Einsatzvideo zum Produkt zeigen oder ein sinnvolles Zusatzprodukt vorstellen. Ebenso lassen sich über Echtzeitanalysen des ERP-Systems Lagerbestände oder die Warenverfügbarkeit in anderen Filialen abrufen und unmittelbar eine Bestellung aufnehmen, die der Kunde wahlweise in der Wunschfiliale abholen oder sich direkt nach Hause schicken lassen kann. Kundenbindungsmaßnahmen können per Tablet auf der Fläche umgesetzt werden. Beispiele sind die Registrierung von Kundenkarten oder das Anmelden zu Kundenevents und -aktionen. Auch der Bezahlprozess kann auf der Verkaufsfläche über Tablets oder Smartphones abgewickelt und der Kassenbon dem Kunden auf Wunsch per E-Mail zugeschickt werden.
Customer Centricity
Datengetriebene Aktivitäten bieten dem stationären Handel zudem vielfältige Möglichkeiten, Konsumenten im Sinne der allgemein im Trend liegenden „Customer Centricity“ (Kundenzentrierung) über verschiedene Kanäle passgenau anzusprechen: Mittels Data Analytics lassen sich Werbemaßnahmen verbessern, indem eine Zielgruppensegmentierung durchgeführt wird und potenzielle Kunden individuell angesprochen werden. Beispielsweise erhalten sie abhängig von der über die Kundenkarte erfassten Informationen wie Umsätze und Artikelvorlieben spezielle Angebote und Rabatte per Mail oder über eine App.
Ein weiteres Beispiel sind Location Based Services: Dem Konsumenten werden über das Smartphone spezielle Angebote oder Informationen über ein Produkt als Push-Nachricht in dem Moment zugespielt, wenn er an dem jeweiligen Store vorbeigeht. Zudem lassen sich Konsumenten über Social-Media-Kanäle wie Facebook, Instagram und Co. fortlaufend mit Bildern, Videos und Nachrichten zu Produkten, Trends, Aktionen und Events versorgen. Sie werden dadurch enger an den Shop gebunden.
Multi-Channel-Strategie
Weiterhin verstärken wird sich der Trend der Multichannel-Strategie, die On- und Offline-Angebote kombiniert. Essenziell für den Erfolg sind genaue Kenntnisse über die Einkaufsbedürfnisse der Kunden. Diesen Erkenntnisgewinn ermöglicht KI-basierte Data Analytics. So lässt sich zum Beispiel die Kaufabsicht des Kunden im Online-Shop antizipieren, um die Seiteninhalte, die Produktauswahl und die Kaufoptionen darauf auszurichten. Das gelingt unter anderem mittels spezieller Datenanalysemethoden: Ausgehend von der Annahme, dass zwei Personen, die dieselben Produkte bestellen, auch ein Interesse an bestimmten weiteren Artikeln teilen, können Händler aus den bisherigen Käufen eines Nutzers Prognosen über seine Präferenzen ableiten und diese auf eine andere Produktgruppe oder auf neue Produkte, Kollektionen, Cross- und Upsales anwenden. Außerdem lässt sich die Shop-Suche so optimieren, dass dem Kunden auch Suchergebnisse zu einem synonym verwendeten Begriff angezeigt werden: Sucht ein User zum Beispiel nach „Sandalen“, werden auch Ergebnisse für die Begriffe „Sandaletten“, „Pantoletten“ und „Flip-Flops“ angezeigt. Zudem wird die Suche gleich mit passenden Trends verknüpft (Synonym Mapping).
Der Handel kann sich zudem über die Analyse multidimensionaler Daten aus Tracking, Produktkatalogen und anderen Datenquellen ein genaues Bild des Nutzerverhaltens machen, um daraus passende Werbung oder Cross-Selling-Angebote abzuleiten.
Über die Analyse von Daten aus Social-Media-Plattformen lässt sich ermitteln, welche Interessen Verbraucher haben, über welche Themen sie in welcher Art und Weise am häufigsten sprechen und wie sie sich zu Produkten oder dem Kundenservice äußern. Aus diesen Informationen werden dann individuelle Marketingmaßnahmen abgeleitet.
Digitalisierungsstrategien in der Praxis
Eine allgemeine Dosierungsempfehlung in Sachen Digitalisierung gibt es nicht. Jedes Handelsunternehmen muss individuell entscheiden, wie viel Data Analytics gut tut.
Die Digitalisierung in homöopathischen Dosen hat sich beispielsweise ein auf Bekleidung spezialisiertes Unternehmen im Handel der INTRO-Gruppe verordnet. Das betrifft etwa Services wie das Nachordern von Waren aus anderen Filialen in der Wunschgröße und -farbe in die Wunschfiliale und die Kommunikation mit den Kunden per WhatsApp oder E-Mail – zum Beispiel, um sie über die Verfügbarkeit der Ware zu informieren. Aktuell beschäftigt sich das Unternehmen mit den Möglichkeiten des Bezahlens direkt auf der Fläche, um den Check-out-Prozess für Kunden zu vereinfachen. Gleichzeitig konzentriert sich das Handelsunternehmen auf die Stärken, die der stationäre Handel gegenüber dem Online-Shopping hat: Einkaufen erlebbar zu machen, beispielsweise über die Beratung durch fachlich geschultes Personal, eine integrierte Kaffeebar und komplementäre Produktangebote auf der Fläche – etwa Wohnaccessoires.
Für einen der in Europa führenden Anbieter von Wohnaccessoires, der sich auf den Multi-Channel-Retail fokussiert, sind Big Data und Data Analytics im großen Stil hingegen essenziell für den Markterfolg. Hier bildet die verkaufskanalübergreifende Verfügbarkeit von Daten zu Kunden, Produkten, Filialen, Verkaufsstellen und Co. eine Grundvoraussetzung, um Kunden ein stationär und digital durchgängiges Einkaufserlebnis zu bieten. Netz-Shopper können per Click and Collect bzw. Click and Reserve die Vorteile des stationären Händlers nutzen: Sie kaufen den Wunschartikel online ein respektive reservieren ihn und holen ihn in der Wunschfiliale ab. Per In-Shop-Order ist es möglich, in der Filiale eine Bestellung online aufzugeben und nach Hause oder zur Abholung in die Filiale zu bestellen. Im Rahmen der vertriebskanalübergreifenden Kommunikationsstrategie nutzt der Händler zudem das Bonusprogramm Payback für die ganzheitliche Kundenverbindung
Auf Omni-Channel-Szenarien setzt auch die MediaMarkt Saturn Retail Group mit den Handelsmarken Saturn und MediaMarkt. Die Elektronikmärkte bieten ihren Kunden in den Filialen unter anderem Omni-Channel-Szenarien wie Click and Collect. Auch hier sind schnelle Analysen von Daten aus verschiedenen Systemen Grundvoraussetzung: Damit die dem Kunden nächstgelegene Filiale eine Bestellung abwickeln kann, muss es möglich sein, über ein entsprechendes Bestellsystem in Echtzeit das gesamte verfügbare Inventar abzurufen – egal, ob es sich im Lager befindet, in einem Verteilerzentrum oder auf der Verkaufsfläche.
Auch Mobile Payment sowie – im Erprobungsstatus – Mobile Check-out, das kassenlose Bezahlen direkt am Regal per Smartphone, stehen auf der digitalen Agenda der Unternehmensgruppe. Digital sind zudem die Preisschilder in den Filialen: Die Electronic Shelf Labels (ESL) ermöglichen es, schnell auf Preisänderungen zu reagieren. Zudem sind die Mitarbeiter mit Tablets ausgestattet, um dem Kunden bei Bedarf weitere Produktinformationen zu geben.
Auch die Popken Fashion Group profitiert von Big Data und Data Analytics: Das Unternehmen vertreibt Bekleidung und Accessoires in Filialen, im Versand- und Internethandel sowie über ausgewählte B2B-Partner. Das Kundenkonto wird über alle Kanäle geführt. Kundinnen können im Versandhandel gekaufte Ware im Laden retournieren. Per Click and Ship kann Ware im Laden bestellt und an die Kundenadresse geliefert werden, umgekehrt können per Click and Reserve Artikel im Online-Shop bestellt und zur Abholung in die Filiale geschickt werden – mit der Option, die georderte Ware im Laden anzuprobieren und bei Nichtgefallen direkt zu retournieren. Die Verkaufsberater auf der Fläche können per Tablet jederzeit Bestände aus allen Filialen, dem Online-Shop und aus weiteren Lagerorten abrufen.
Worauf es ankommt
Egal, ob der Handel die Digitalisierung informierend, verfügbarmachend oder logistisch unterstützend nutzt, ob punktuell oder durchgängig – erforderlich sind zum einen Daten: zu Kunden, zu Waren, zum Wetter, zum Wettbewerb, zum Lagerbestand, zur Kaufkraft, zu Preisen etc. Und passende Data-Analytics- Technologien, um diese Daten aus unterschiedlichen Systemen extrahieren, verknüpfen und informativ abbilden zu können.
Zum anderen gilt es für den Handel nun, die richtige „Daten-Dosis“ zu finden. Wie viele Daten machen Sinn? Müssen es immer Big Data sein, um das eigene Geschäft datengestützt zu optimieren? Mit welchen Analysen lassen sich tatsächlich Handlungen auslösen? Wie viel Informationstechnik ist nötig? Und wie wird sie richtig eingesetzt?
Welche Punkte stationäre Handelsunternehmen beachten sollten, damit digitale Trends ihre Wirkung ohne Risiken und Nebenwirkungen entfalten können, erfahren interessierte Leser in dem Trendreport: Digitalisierung im stationären Handel.
Irene Schröder ist Leiterin Partnermanagement bei Bissantz & Company, Kontakt: irene.schroeder@bissantz.de
Michael Nordhausen ist Leiter Vertrieb und Mitglied der Geschäftsleitung bei Bissantz & Company,
Kontakt: michael.nordhausen@bissantz.de
Bissantz & Company ist ein deutsches Softwareunternehmen und spezialisiert auf Lösungen für anspruchsvolle Aufgaben der Datenanalyse, der Planung und des Reporting. Das Unternehmen wurde 1996 gegründet und ist bis heute inhabergeführt und eigenfinanziert. Das Hauptprodukt ist DeltaMaster, eine integrierte Business-Intelligence-Software, die in unterschiedlichsten Branchen genutzt wird, im Mittelstand wie in Großunternehmen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Automation betriebswirtschaftlicher Analysen mit Methoden der Künstlichen Intelligenz. Zudem gilt Bissantz als Vorreiter, was die Gestaltung (Visualisierung) von Berichten und Cockpits angeht. Weitere Informationen stehen unter www.bissantz.de zur Verfügung.
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