Dr. Nicolas Bissantz ist geschäftsführender Gesellschafter von Bissantz & Company, einem deutschen Anbieter von Business-Intelligence-Softwarelösungen. Kontakt: nicolas.bissantz@bissantz.de
Herr Bissantz, wie kamen Sie darauf, Rennfahrerlegende Hans-Joachim Stuck auf der Nordschleife mit einer Eye-Tracking-Brille auszustatten (siehe Video 1), um daraus Erkenntnisse für die Datenvisualisierung abzuleiten?
Beim Lesen von Daten und Berichten sind wir auf bewusstes, scharfes und buntes Sehen angewiesen, dem enge Grenzen gesetzt sind. Diese Grenzen sind nicht gut erforscht und das Wenige, das man über sie weiß, ist nicht allgemein bekannt. Deswegen machen es viele Dinge dem Auge unnötig schwer. Das gilt übrigens nicht nur für das Berichtswesen in Unternehmen, sondern auch für die Verkehrsregelung oder das Design von Autocockpits, Software, Handtuchspendern oder Kaffeemaschinen.
Woher kommen diese Grenzen?
Richtig scharf und bunt sieht der Mensch nur mit dem kleinsten Teil des Auges, der sogenannten Fovea. Sie kann nur einen winzigen Ausschnitt der Welt abdecken. Strecken Sie Ihren Arm aus: Die Größe Ihres Daumennagels entspricht dann diesem Ausschnitt. Unablässig tastet das Auge die Welt ab und setzt die Einzelbilder zusammen, ein Großteil des Gesamtbildes kommt aus dem Gedächtnis durch Wahrscheinlichkeitsrechnung zustande. Sehen ist wie Memory und Daumenkino durch ein Opernglas.
Warum also Rennstrecken?
Zum einen: Rennstrecken sind „Challenges by design“. Sie machen es dem Auge mit Absicht schwer. Daraus können wir sehr viel Grundsätzliches lernen. Zum anderen: Die Datenaufzeichnung beim Eye Tracking ist sensibel. Rennfahren gehört zu den wenigen Fällen, in denen wir außerhalb des Labors und unter Extrembedingungen zuverlässig Daten bekommen.
Warum braucht es Extrembedingungen? Andere Forscher testen direkt am eigentlichen Gegenstand, also zum Beispiel an Monatsberichten für die Geschäftsleitung.
Ich musste meine eigenen Erwartungen an Eye Tracking unter Laborbedingungen korrigieren. Ein Großteil der beobachtbaren Augenbewegungen ist unwillkürlich und sagt nichts darüber aus, ob die Versuchsperson das Fokussierte verarbeitet oder verstanden hat, gut oder schlecht fand oder gar, was sie dabei dachte. Auf der Rennstrecke spiegeln sich geringste Unterschiede im Blickverlauf in Rundenzeitunterschieden. Verständnis wird messbar.
Video 1: Eye Tracking bei Hans-Joachim Stuck auf der Nordschleife
Sie sagten an anderer Stelle schon einmal, dass es nicht nur auf das foveale Sehen, sondern auch auf das periphere Sehen ankommt, das eigentlich nicht gemessen werden kann.
Sehr richtig. Alle Spitzensportler trainieren nicht nur foveale Präzision und Geschwindigkeit, sondern auch die periphere Wahrnehmung. Wenn man bedenkt, dass die Augen für Controller und Manager das Arbeitsmittel Nr. 1 sind, haben wir an den Schulen und Universitäten dazu großen Aufklärungs- und Nachholbedarf. Die Sehtrainerin Sabine Nebendahl von der Sportuni Köln berichtete mir von einem dramatischen Befund: Viele Menschen, die täglich Computerarbeit machen, können nur mit Mühe oder einem Lineal beim Lesen „in der Zeile bleiben“.
Was haben Sie dazu aus der Beobachtung des Spitzensportlers Stuck gelernt?
Wir haben bei unseren Tests mehr als 20.000 Blickverlaufsbilder aufgezeichnet. Anschließend haben wir mit eigenen Algorithmen fehlerhafte Daten aussortiert, die harten Fahrwerksschlägen und Lichtreflexionen geschuldet waren. Daraus haben wir einen Film generiert, der den fovealen Blickverlauf wiedergibt und realistisch zeigt, was Stuck scharf und bunt und was er nur peripher wahrgenommen hat.
Bei der Analyse dieser Daten und dem Vergleich mit Daten von weiteren Tests auf sechs anderen Rennstrecken kamen wir aus dem Staunen nicht heraus: Wir konnten die Bedeutung von Kontrast auf die unwillkürlichen Augenbewegungen nachweisen, periphere Sehstrategien extrahieren, den Zusammenhang zwischen Sektorenzeiten und trainierter Blickverlaufsdisziplin und viele weitere Erkenntnisse gewinnen.
Grafik 1: Beobachten Sie, wie schwer es Ihnen fällt, den Blick von den Bäumen, den Tafeln und schließlich vom vorausfahrenden Auto auf den Kurvenverlauf zu lenken – so stark wird das Auge von Kontrasten gelenkt. Rennfahrer blenden alle kontraststarken, aber unwichtigen Details aus.
Video 2: Eye Tracking bei Formel 1 Rennfahrer Niko Hülkenberg.
Klingt spannend, aber inwieweit ist das übertragbar vom Rennfahrer auf den Berichtsempfänger?
Stucki hat seinen Blickverlauf durch jahrelanges Training diszipliniert: Was auffällig, aber für eine schnelle Rundenzeit irrelevant ist, wird ignoriert. Der Blickverlauf folgt einer eingeübten Bahn von Ankerpunkt zu Ankerpunkt. Um das Fahrzeug auf der „Race Line“, also der sogenannten Ideallinie zu bewegen, muss sein Auge einer „Gaze Line“ folgen, wie ich das nennen möchte. Diese „Gaze Line“ müssen wir in Informationssystemen und Berichten durch das Design vorgeben. Weil wir wissen, dass Größe, Farben und Kontraste das Auge unwillkürlich lenken, können wir den richtigen Blickverlauf mit der richtigen Gestaltung geradezu erzwingen. Die Crux bei vielem heute ist, dass ausgerechnet das Unwichtige das Auge am meisten anzieht und vom Wesentlichen ablenkt. In Autos sind es verchromte Zierleisten neben Bedienelementen, in Berichten zu viele Hervorhebungen, schwere Raster, unnötige Schriftvariationen, Werte in Euro statt in Millionen und Tausendern, wechselnde Reihenfolgen, unlogische Anordnung usw.
Wie setzen Sie diese Erkenntnisse konkret in Ihren Datenvisualisierungen um?
Lassen Sie mich zwei Elemente herausgreifen, die ich mir ganz allgemein als Standard im Berichtswesen wünsche. Das erste betrifft die schiere Zahlenformatierung. Werte in Tausendern oder Millionen darzustellen ist üblich, führt dann aber zu so schrägen Einträgen wie „0,9 Mio.“ Wir haben deswegen eine Formatierung entwickelt, die in derselben Tabelle zum Beispiel „2,4 Mio.“ und „342 Tsd.“ anzeigt
Video 3: Chart of Doom
Grafik 2: Links ein Geschäftsbericht ohne Formatierung, rechts mit typografischer Skalierung. (Quelle: bissantznumbers.de)
Wenn ich Sie richtig verstehe, entlastet das die begrenzte Wahrnehmung, weil die Werte schon beim ersten „fovealen“ Ansehen gedeutet werden können?
Je einfacher jedes einzelne „Puzzleteil“, desto besser für das schnelle Verstehen. Deswegen ist auch wenig davon zu halten, wenn in ein einziges grafisches Element gleich mehrere Bedeutungen codiert werden, beispielsweise wenn ein Balkenkonstrukt Istwert, Planwert und Abweichung zeigen soll. Sehen und Denken beanspruchen die gleichen Verarbeitungskapazitäten. Sehen kann schnell so anstrengend werden, dass das Denken zum Stillstand kommt.
Deswegen auch Ihre wachsende Abneigung gegen herkömmliche Diagramme?
Linien, Torten, Balken, Säulen – die heutigen Diagramme hat William Playfair allesamt vor mehr als 200 Jahren erfunden. Ihre Tücken schleppen wir bis heute mit uns herum. Es wird Zeit, darüber hinauszukommen.
Was sind das für Tücken?
Darüber schreibe ich gerade ein Buch. Ganz offensichtlich werden die Voraussetzungen für visuelle Integrität kaum verstanden – nicht einmal die, an die sich Playfair selbst gehalten hatte. Selbst so bedeutende Organe wie das Wall Street Journal publizieren „Charts of Doom“, die mit billigen Skalierungstricks Parallelen zu Entwicklungen vor großen Crashs ziehen und Ängste schüren (siehe Video 3). Wie öffentliche Diskussionen darüber zeigen, werden die angewandten Tricks nicht mal von Finanzfachleuten verstanden, die täglich mit Daten zu tun haben (siehe Video 4).
Auch eingefahrene Konventionen wie die zu den Signalfarben Rot und Grün behindern die Wirksamkeit: Die Farbrezeptoren für Grün und Rot liegen eng zusammen, der Aufwand für das Sehsystem, sie zu unterscheiden, ist besonders hoch. In Japan versucht man deswegen, trotz der internationalen Konvention, das Grün der Ampeln deutlich ins Blau zu verschieben. Und wir nutzen in unseren Dashboards und Berichten Blau statt Grün als Kontrast zu Rot.
Was ist die Alternative zu Diagrammen?
Ich schlage „Zahlogramme“ mit typografisch skalierten Zahlen vor (siehe Grafik 2, Video 4, Video 5). Damit schlagen wir mehrere Fliegen mit einer Klappe. Je größer der Wert, desto größer die Zahl. Diese einfache Idee lenkt das Auge in der richtigen Reihenfolge durch einen Bericht.
Können Sie beschreiben, wie Sie das aus den Erkenntnissen des Eye Tracking ableiten konnten?
Die größte Überraschung in unserem „Rennstrecken-Labor“ war, wie zwanghaft das Auge auf Kontrast reagiert. Kontrast wird durch Größe und Farbunterschied determiniert. In Grafiken wird das insofern genutzt, als zum Beispiel der längste Balken das Auge zum größten Wert „zieht“, der danebensteht, aber dann kommt es zu einem Hin und Her zwischen Grafik und Zahl. Das vermeiden wir mit unserer typografischen Skalierung.
Video 4: Typografische Skalierung Beispiel 1 (Quelle: bissantznumbers.de)
Video 5: Typografische Skalierung Beispiel 2 (Quelle: bissantznumbers.de)
Mit dem Hin und Her meinen Sie den Blick vom grafischen Element zur Zahl und zurück? Warum ist das belastend?
Für Zahleninformationen sind wir auf die bewusste sequenzielle Verarbeitung des Arbeitsgedächtnisses angewiesen, dessen Kapazität äußerst begrenzt ist. Das Hin und Her in der Augenbewegung, das viele traditionelle Typen von Businessgrafik erzeugen, überfordert diese Kapazität schneller, als man meinen sollte (siehe Video 6).
Das Denken wird dann durch das Sehen blockiert?
Das sieht man sehr gut in dem Beispielvideo. So wenige Zahlen, so viel Aufwand. Der oft bemühte Satz „Bilder sagen mehr als tausend Worte“ gilt nicht für die abstrakte Symbolik von Diagrammen! Bei der Dekodierung von Kreisen, Säulen, Balken kommt es zu einem anstrengenden Wechselspiel zwischen abstrakt-logischer und bildlicher Verarbeitung, also zwischen linker und rechter Gehirnhälfte.
Sind denn Ihre „Bissantz’Numbers“ gar nicht mehr grafisch?
Sie sind insofern grafisch, als dass sie die Eigenschaft grafischer Elemente nutzen, das Auge in eine geordnete Blickverlaufsbahn zu zwingen, gemäß dem Prinzip: je größer, desto wichtiger, desto mehr Kontrast, desto mehr Lenkung – analog zur „Gaze Line“ des Rennfahrers. Zahlen können wir nur mit eingeschaltetem Bewusstsein verstehen, also sollten wir das Gehirn durch Design entlasten.
Video 6: USA-Wahl 2017 nach Ethnien
Das heißt, im Controlling sollten allgemein weniger Diagramme, Grafiken und Bilder und mehr skalierte Zahlen verwendet werden?
Mehr Bilder von realen Dingen, wie den verkauften Produkten, verwalteten Immobilien oder den betreuten Kunden, würden enorm helfen, weil sie den Abstraktionsgrad im Controlling vermindern. Bilder im Sinne von Diagrammen brauchen wir weniger. Diagramme sagen nicht mehr als tausend Worte, im Gegenteil müssen wir den Satz sogar umdrehen, beinahe im Sinne von „Image is damage“: Es macht Diagramme besonders tückisch, wenn sie durch Übertreibung so bildhaft werden, dass sie an den Toren des Bewusstseins vorbei wirken. Die Skalierung von Zahlen nutzt die vor- und unbewusste Bildverarbeitung lediglich zur Lenkung der fovealen Fokussierung. Falsche Zahlen bleiben dann immer noch manipulativ, daran ändert die beste Visualisierung nichts. Auf jeden Fall aber reduzieren wir den Aufwand fürs Lesen und Verstehen von Zahleninformationen dramatisch und vermeiden die Fehlinterpretation fehlerhaft konstruierter Diagramme. Mit dem Neurobiologen Gerhard Roth sitze ich gerade über dem Nachweis, dass sich falsche Diagramme im Sinne falscher Bilder nicht oder kaum aus dem Gedächtnis löschen lassen und daher dauerhaft nachwirken. Anders als falsche Zahlen, die wir vergleichsweise mühelos wieder löschen.
Danke für das Gespräch, Herr Bissantz!
Weiterführende Links
Firmenprofil Bissantz & Company
Das Gespräch führte Axel Bange, Herausgeber von BI Scout. Kontakt: redaktion@bi-scout.com
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