Prof. Dr. Thomas Zahn ist Professor für Wirtschaftsinformatik & Data Science an der bbw Hochschule sowie seit 2013 Geschäftsführer von GEWINO (Gesundheitswissenschaftliches Institut Nordost), einer Stabsstelle der AOK Nordost. GEWINO macht die Abrechnungsdaten von rund 1,75 Millionen Versicherten datenschutzgerecht für Forschungszwecke nutzbar und ist Konsortialführer das Projekt SAHRA (Smart Analysis Health Research Access), dass Gesundheitsdaten aus ganz Deutschland kombinierbar und für Forschungs- und Planungszwecke nutzbar macht. Kontakt: thomas.zahn@nordost.aok.de
Herr Professor, können Sie uns das Projekt SAHRA (Smart Analysis Health Research Access) vorstellen?
Thomas Zahn: Die Versorgungsforschung in Deutschland bekommt derzeit durch Fördermittel des neuen deutschen Innovationsfonds des gemeinsamen Bundesausschusses aber auch der Fachministerien starken Aufwind. Wir brauchen in Deutschland jedoch auch eine zentrale technische Plattform, auf der die Daten aus verschiedenen Quellen rechtssicher kombiniert und mit modernen Big-Data-Analysemethoden analysiert werden können. Es gibt Data Lakes in Krankenhausinformationssystemen, Arztinformationssystemen oder Laborinformationssystemen, wo regulär und routinemäßig Daten gesammelt werden. Auch Referenzdaten der Statistischen Ämter und Register wie z.B. Schlaganfall- oder Herzinfarktregister sowie die universitäre Studien sind wichtige Datenquellen. SAHRA soll all diese bereits verfügbaren Daten datenschutzgerecht kombinierbar und für die praxisnahe Versorgungsforschung nutzbar machen.
Beispielauswertung 1 SAHRA - Pflegeheimbewohner in einem Landkreis (Musterdaten, die keine Rückschlüsse auf die tatsächlichen Pflegekennzahlen des Landkreises zulassen.) Quelle: https://www.sahra-plattform.de/
Viele Quellsysteme bedeuten oft großen Aufwand, um die Daten überhaupt erst mal nutzbar zu machen. Was sind Ihre Herausforderungen?
TZ: Die größere Herausforderung ist eigentlich nicht die technische, sondern die regulatorische: Die Daten zusammenzubringen ist im gesetzlichen Rahmen sehr schwer, da jede einzelne Datennutzung von verschiedenen Landes- und Bundesbehörden genehmigt werden muss. Deshalb plädieren wir für Forschungsverbünde, und eine bundeseinheitliche Forschungsaufsicht, damit diese Daten einheitlich pseudonymisiert (Entfernung des Personenbezugs) und ohne Risiko für den Einzelnen genutzt werden können.
Gerade in Deutschland gibt es immer wieder große Bedenken zum Datenschutz? Ist das ein Hindernis für Ihre Projekte?
TZ: Um es ganz klar zu sagen: Die Daten gehören dem Patienten. Punkt! In Deutschland braucht man dementsprechend Freigaben und Einwilligungen des Patienten, um diese Daten nutzbar zu machen. Die neue, ab April 2018 gültige, EU-Datenschutzgrundverordnung ermöglicht auch eine Nutzung für Forschungszwecke wenn die Daten vollständig pseudonymisiert sind – also keinen Personenbezug mehr zulassen. Wir haben sonst keine Möglichkeit und keine Berechtigung mit den Daten zu arbeiten.
Gleichzeitig wollen wir, dass diese gesetzlichen Voraussetzungen leichter erfüllt und Daten nutzbar gemacht werden können. Wir sind fest davon überzeugt, dass Patienten und Ärzte stark davon profitieren würden. Gerade den Praktikern könnten Informationen zum Patienten, zum Beispiel zur Medikamentenhistorie oder früheren Behandlungen, erheblich die Arbeit erleichtern. Manchmal sind die Patienten ja auch gar nicht in der Lage, diese Informationen zu geben.
Deshalb fordern wir, dass die Patienten selbst in die Lage versetzt werden abzufragen wer welche Daten von Ihnen zu welchen Zwecken verarbeitet und ihre Zustimmung dazu selektiv erteilen aber auch wieder entziehen zu können. Dazu bauen wir im AOK System gemeinsam die neue VIA Versorgungsplattform auf und bereiten im Rahmen des BMWi Smart Service Welt II Wettbewerbes bereits ein weiteres Projekt unter dem Titel HLAN vor. Dabei geht es auch die Schaffung einer zentralen Vertrauensstelle für deutsche Gesundheitsdaten die vor dem Zugriff wohlbekannter Unternehmen geschützt ist.
Welche konkreten Erkenntnisse erhofft man sich von der Auswertung dieser Daten und was sind aktuelle und künftige Einsatzfelder?
TZ: Das profanste Beispiel ist, dass die öffentliche Hand auf kommunaler Ebene auf Basis kleinräumiger regionaler Kennzahlen Versorgungsstrukturplanung betreiben kann. Das ist gar nicht so hochwissenschaftlich aber sehr wichtig, da die Kommunen oft die einzigen sind, die konkret vor Ort bestendende Versorgungslücken mit innovativen Ideen schließen können.
Außerdem entwickeln wir Methoden, die bei der Früherkennung von Krankheiten helfen können. Ein Beispiel wäre die Eskalationsvermeidung von Niereninsuffizienz. Durch die Kombination von Labordaten und Abrechnungsdaten entwickeln wir mit den Fraunhofer Institut und praktizierenden Ärzten ein Scoringverfahren, das von ambulant praktizierenden Ärzten auf seine Praxistauglichkeit wird. Ab nächstes Jahr sollten dann im Optimalfall die ärztlichen Kollegen eine drohende Niereninsuffizienz bereits ohne Symptome erkennen können und früh intervenieren, so dass es nicht zur chronischen Niereninsuffizienz oder am Ende gar zur Dialyse kommt.
Ein weiteres Beispiel ist das Förderprojekt EMANET unter Leitung der Berliner Charité. Hier geht es um die Notfallversorgung, also wer kommt in die Notaufnahmen der Berliner Krankenhäuser? Was sind die Entscheidungswege? Kann er besser und schneller in ambulanten Praxen versorgt werden? Wer bracht dazu welche Informationen? Das soll erforscht werden damit die Zugangswege zum deutschen Gesundheitssystem, auch für Migranten, schneller und besser werden.
Tools im Einsatz
Quellsysteme:
Die Wissenschaftler nutzen u.a. SPSS und R+
Datenintegration: Data Preparation Server (SAS)
Data Warehouse: u.a. SAP HANA
Frontend: SAS Visual Analytics
BI Scout Marktübersicht
Beispielauswertung 2 SAHRA - Quelle: https://www.sahra-plattform.de/
Klingt fast nach Science Fiction: Diagnose ohne Symptome.
TZ: Fakt ist, dass wir jetzt mit den neuen Technologien, sei es „Big Data" oder „Deep Learning", viel mehr Möglichkeiten haben. Voraussetzung ist und bleibt aber die Einwilligung des Patienten, dass Ärzte und Kassen ausgewählte relevante Informationen austauschen dürfen.
Multikomplexe Vorgänge genau vorauszusagen, also „was passiert nächstes Jahr mit mir“, kann Statistik nicht. Aber wir können künftig deutlich komplexere Modelle, auch mit Zeitbezug bilden und Dinge sichtbar machen, die bisher eventuell nur wenige Spezialexperten wissen, zum Beispiel Krebserkrankungen im Frühstadium erkennen sehr seltene Krankheiten korrekt diagnostizieren.
Kann man sich also künftig von einer App sagen lassen, was mit einem nicht stimmt? Der Hausarzt hat dann ausgedient?
TZ: Tatsächliche glaube ich, dass künftig mobile Anwendungen wesentliche Teile der der Diagnostik unterstützen können. Aber das heißt noch lange nicht, dass man keine Mediziner mehr brauchen wird. Die Patient-Arzt Beziehung ist auch eine psychologische, die kann man nicht so einfach ersetzen. Die Rolle wird sich eventuell ein wenig ändern, Ärzte werden ihre Patienten künftig weniger anhand von Symptomen einzelner Krankheiten und mehr als Mensch in komplexen Lebenssituationen behandeln können.
Sie müssen im Optimalfall nicht mehr alle Puzzlestücke der Vorgeschichte und bisherigen Behandlung vom Patient erfragen, damit sie die richtige Diagnose stellen und eine risikoarme Therapie einleiten können. Und damit sollte doch sowohl Patienten als auch Ärzten geholfen sein.
Vielen Dank für das Gespräch, Professor Zahn!
Das Gespräch führte Axel Bange, Herausgeber von BI Scout. Kontakt: redaktion@bi-scout.com
SAHRA (Smart Analysis Health Research Access)
SAHRA soll es ermöglichen, Abrechnungsdaten, Behandlungsdaten sowie Studien- und Registerdaten rechtssicher kombinierbar und für die dazu ermächtigten Versorgungsforscher und Anwender zugänglich zu machen. Ziel des Projekts ist es, verschiedenartige versorgungsrelevante Datentöpfe analysierbar zu machen, um die daraus resultierenden Erkenntnisse in die Versorgungspraxis zu übertragen.
SAHRA ist Teil des Technologieprogramm „Smart Data – Innovationen aus Daten“, mit dem das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) 13 ausgewählte Leuchtturmprojekte fördert, die innovative Dienste und Dienstleistungen entwickeln. Dadurch soll möglichst frühzeitig eine breite Nutzung von intelligenten Big-Data-Technologien angestoßen werden.
Für viele weitere national und von der EU geförderte Forschungsvorhaben, wie z.B. das von der EU im Rahmen von Horizont 2020 geförderte big medialytics Projekt bildet SAHRA eine wesentliche Grundlage.
SAHRA Homepage
SAHRA Projektpartner
- GeWINO – Gesundheitswissenschaftliches Institut Nordost (Konsortialführung)
http://www.gewino.de/ - data experts gmbh
https://www.data-experts.de/ - Hasso-Plattner-Institut der Universität Potsdam
https://hpi.de/ - TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V.
http://www.tmf-ev.de/
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